BUND Kreisverband Schmalkalden-Meiningen

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17. Mai 2020

"Leben im Anthropozän : Die Pandemie ist kein Überfall von Außerirdischen" Autor: Bernd Scherer Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung

 

Leben im Anthropozän :

Die Pandemie ist kein Überfall von Außerirdischen

 

    Von Bernd Scherer

 aus der Frankfurter Allgemeine Zeitung - Aktualisiert am 03.05.2020-19:46

Die weltweite Verbreitung von Covid-19 führt uns die Konsequenzen unserer Lebensweise vor Augen. Im Virus begegnen wir unserem Selbst und unserer Beziehung zur Natur. Aus den Fehlern sollten wir lernen.

Sars-CoV-2 dringt immer tiefer in unsere Welt ein. Es verändert tiefgreifend unseren Alltag, unser Leben. Es ist eine Situation, die wir so in Mitteleuropa bisher nicht erlebt haben und für die wir keine eigene Sprache ausgebildet haben. Nicht selten wird vom Krieg gegen die Viren gesprochen. Aber wer ist eigentlich der Gegner, gegen den dieser Krieg zu führen ist? In der Wissenschaft ist es umstritten, ob Viren überhaupt Lebewesen sind. Die Tatsache, dass sie sich vermehren können, deutet zwar darauf hin, allerdings sind sie dabei auf einen Wirt angewiesen. Der Wirt bietet das Milieu, in dem sie sich teilen, in dem sie aber auch mutieren. Sie selbst verfügen vor allem über das Programm, das die Teilung und damit Vermehrung steuert, nicht aber über eigene Stoffwechselprozesse. Insofern sind sie nicht selbständig und nicht als Lebewesen zu betrachten. Man kann Viren auch nicht im Sinne eines Krieges töten, sondern nur ihre Vermehrung stoppen.

Menschliche Zellen werden zu Wirten des Coronavirus. In diesem Zuge wurden menschliche Lebensweisen, ökonomische Austauschprozesse sowie politische Strukturen zu den eigentlichen Medien der Vermittlung des Virus. Das Virus selbst erhält sich erst durch seinen Träger, ohne den es nicht existieren kann.

Vor dem Hintergrund seiner biologischen Funktionsweise wird nun die kulturelle und soziale Rolle des Coronavirus klar. Es nistet sich in einen Träger ein, nämlich die Menschen, die seit geraumer Zeit den Planeten umgestalten. Diese Transformation des Planeten durch den Menschen wird heute als Anthropozän bezeichnet. Das neue Coronavirus interveniert nun in die Logiken der anthropozänen Welt. Dies ist kein von Menschen intendierter Prozess. In ihm tritt der Mensch zunächst als natürliche Spezies auf, als Träger und Übermittler von Viren. Diese greifen die durch Menschen geschaffene Welt an. Durch die rasante Vermehrung des Virus und seine Weitergabe werden Strukturen und Defizite dieser anthropozänen Welt wie unter einem Brennglas ausgeleuchtet und auf die Probe gestellt.

Das Merkmal des Anthropozäns besteht darin, dass der Mensch durch die selbst geschaffenen Technologien und Infrastrukturen so tief in das Erdsystem eingreift, dass er nicht nur den Planeten als Ganzes transformiert, sondern auch das bisherige Gleichgewicht aus der Balance bringt. Dies zeigt sich daran, dass wesentliche Erdparameter vom Anstieg des Kohlendioxid-Gehalts bis zur Versauerung der Meere, vom Wasserverbrauch bis zur Herstellung von Plastik exponentiell ansteigen, ein Phänomen, das die Wissenschaft als „Great Acceleration“ – als große Beschleunigung – bezeichnet. Der Klimawandel, von dem wir in den letzten Jahren zunehmend betroffen sind, ist eine Konsequenz dieser Entwicklung.

Ein grundlegendes Problem vieler dieser anthropozänen Prozesse besteht darin, dass sie nicht unmittelbar erfahrbar sind und deshalb auch keine Strategien entwickelt wurden, um mit ihnen umzugehen. Das hat wesentlich mit den Skalierungseffekten zu tun. Wir erleben zwar Trockenheit und Regen, aber nicht die Klimaveränderungen über längere Zeiträume. Wir unternehmen zwar Fernreisen, können aber nicht fassen, was es für den Planeten bedeutet, wenn täglich mehr als zweihunderttausend Flugzeuge Millionen von Menschen um die Erde transportieren. Das Virus führt uns nun die Konsequenzen einer im Rahmen der großen Beschleunigung exponentiell angestiegenen Mobilität vor Augen, in der Flüge über den Atlantik oder Reisen nach Fernost Teil der beschleunigten ökonomischen Austauschprozesse sind. Es sind genau diese Mobilitätsstrukturen, die zum Transportmittel des Virus werden.

Es gibt keinen Ort, an den wir uns zurückziehen können

Die anthropozäne Welt ist eine Welt, in der es außer dem Weltraum kein Außen mehr gibt. Da menschliches Wissen und Technologie den Planeten als Ganzes transformieren, sind wir als Akteure immer auch Teil des Geschehens. Wir stellen permanent die Welt her, der wir dann auch ausgesetzt sind. Das Coronavirus verbreitet sich dank der Mobilität seines Wirtes auf dem gesamten Planeten aus. Deshalb gibt es keinen Ort, an den wir uns zurückziehen können, um von dort aus, geschützt vor dem Virus, auf die Erde zu blicken. Wir müssen unser Handeln und Denken als immanenten Teil dieser Prozesse begreifen. Die Idee, dass wir mit unserem Wissen die Welt beherrschen könnten, erweist sich somit als Illusion.

Das Virus und damit die Pandemie breitet sich aufgrund der anthropozänen Lebensformen mit einer bisher ungekannten Schnelligkeit aus. Die lokalen medizinischen Infrastrukturen kollabieren an vielen Stellen. Aus diesem Grund erkaufen wir uns jetzt mit Milliardenbeträgen Zeit, die es uns erlaubt, die adäquaten Lösungen für die existentielle Bedrohung zu entwickeln. Es sind Geldsummen notwendig, die jede menschliche Vorstellung übersteigen, um kompensatorisch auf die von uns selbst verursachte Problemlage zu reagieren. Diese ist eng verbunden mit der Logik der Beschleunigung, bei der die Wissensprozesse der letzten Jahrzehnte vor allem im Hinblick auf ihre technologische Anwendbarkeit und Profitabilität, aber nicht im Hinblick auf den gesellschaftlichen Nutzen und Sinn hin entwickelt wurden. Dabei haben wir in der Vergangenheit Strukturen geschaffen, die unsere Zukunft verbauen.

Die anthropozäne Welt beruht auf gigantischen technologischen Infrastrukturen, die sich über den ganzen Planeten erstrecken, von Staudämmen über Raffinerien, Flughäfen, Straßen- und Eisenbahnnetzen bis zu Ölpipelines, Lieferketten zwischen verschiedenen Produktionsstandorten und digitalen Infrastrukturen mit ihren weltumspannenden Kabelnetzwerken und Serversystemen. Diese Infrastrukturen werden mehr und mehr digital miteinander vernetzt und entwickeln sich zu einer eigenen Sphäre, der Technosphäre. Die Technosphäre ist äußerst kapitalintensiv und führt zur Akkumulation von ökonomischer Macht.

Dies hat zwei Konsequenzen, die durch die Corona-Krise aufgedeckt werden. Die Herstellung der Infrastrukturen, die für die Beschleunigungsphänomene des Anthropozäns verantwortlich sind, hat Gelder aus Bereichen abgezogen, die nicht im engeren Sinne produktiv für diese Entwicklung waren. Dies gilt insbesondere für das Gesundheitswesen, das in fast allen Ländern nicht auf diese Form der Pandemie vorbereitet war.

Hinzu kommt, dass die ursprünglichen Verbreiter der Pandemie Akteure der globalisierten Welt sind, Menschen, die aus wirtschaftlichen oder touristischen Gründen Grenzen und Kontinente überqueren. Betroffen von der Pandemie sind aber auch sehr viele Menschen des globalen Südens, die von diesen Prozessen nicht profitieren, aber ihnen ausgesetzt sind. Ihnen stehen fast keine Mittel zur Verfügung, sich gegen die Ausbreitung des Virus zu wehren. Viele verlieren ihre Jobs aufgrund der Wirtschaftskrise, Tagelöhner können sich nicht mehr frei bewegen, ihnen fehlt der tägliche Lohn für ihre Arbeitskraft. Wer trotz der schlechten Versorgung nicht krank wird, gerät aufgrund der kollabierenden Ökonomien in eine existentielle Bedrohungslage. Die Politik erobert das Primat gegenüber der Ökonomie zurück, jedoch ohne die eigene globale Verantwortung zu akzeptieren.

Es lauert die Gefahr des Überwachungsstaates, der seine Bürger nicht nur schützt

Statt neue Formen der Solidarität mit den vom Virus am härtesten Betroffenen im globalen oder auch nur Europas Süden zu suchen, schottet sich der Norden systematisch ab. Und die neuen Nationalisten nutzen unter völliger Verkehrung der wirklichen Ursachen die Wohlstandsängste aus, indem sie die alten Metaphoriken von Infektionskrankheiten neu beleben. Alte Rassismen aber dienen der Befeuerung einer martialischen Rhetorik, die darauf dringt, die Grenzen dichtzumachen. Hier zeigt sich erneut die Gerechtigkeitslücke, die auch bei anderen anthropozänen Phänomenen wie dem Klimawandel eine grundlegende Rolle spielt. Die am stärksten Betroffenen sind nicht die Verursacher der Prozesse.

National, aber auch global bedarf es Strategien, die diese Gerechtigkeitslücke schließen. Im nationalstaatlichen Rahmen erfolgt nicht nur in Deutschland zur Zeit angesichts der Pandemie eine solche politische Neubewertung, aber nur für die eigene Bevölkerung. Milliarden werden eingesetzt, um die am meisten Gefährdeten, ältere und kranke Menschen, im Innern zu schützen. So richtig dieser Schritt ist, löst er nicht das globale Gerechtigkeitsproblem.

Die Infrastrukturen der Technosphäre haben mittlerweile eine solche Komplexität erreicht, dass sie sich der Kontrolle entziehen und unsere Freiheitsräume und damit unsere Zukunft zubauen. Die Bekämpfung der Pandemie in China, die zunächst nur die Speerspitze dieser Entwicklung deutlich macht, führt besonders eindrücklich vor Augen, was alle Gesellschaften vor enorme Herausforderungen stellt: Die Mobilität und technische Durchdringung aller Lebensbereiche erzeugt zunehmend Phänomene, die scheinbar die totale Überwachung und Kontrolle aller sozialen Abläufe notwendig macht.

Erscheint inmitten der Krise die entschlossene staatliche Intervention als Gebot der Stunde, so lauert doch gleichzeitig die Gefahr des Überwachungsstaates, der seine Bürger nicht nur schützt, sondern auch kontrolliert. Dieser Ausnahmezustand könnte zur Regel werden.

Die Herausforderungen der anthropozänen Welt haben ihre Wurzeln in der Entwicklungsgeschichte der westlichen Moderne. Für lange Zeit bestand das Versprechen der westlichen Moderne darin, die Freiheit und Autonomie jedes Menschen zu garantieren. Dieses Autonomieversprechen wurde aber damit erkauft, dass die Natur zur ausbeutbaren Ressource erklärt wurde. Voraussetzung dafür war über Jahrhunderte, dass viele nichtwestliche Gesellschaften von der Reichtumsakkumulation ausgeschlossen wurden, indem sie nicht der Zivilisation, sondern der auszubeutenden Natur zugerechnet wurden.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten sich Konsumgesellschaften, in denen das ursprüngliche Freiheitsversprechen der Moderne mehr und mehr als Recht auf uneingeschränkten Konsum ausgelegt wurde: Die Möglichkeit für jeden Einzelnen, zu jeder Jahreszeit alle erdenklichen Produkte kaufen und überall hin reisen zu können, wurde zu einer grundlegenden Antriebskraft der Great Acceleration und damit des Anthropozäns. Die Logiken der Konsumgesellschaft plünderten die Ressourcen des Planeten und brachten ihn an den Rand des Kollapses.

Das Autonomie-Projekt der Moderne entwickelte sich damit mehr und mehr zu einem Angriff sowohl auf den Planeten als auch das Leben. Das Schutzprojekt, nämlich der Schutz der Freiheit des Einzelnen, entpuppte sich zunehmend als ein Expansionsprojekt, das unsere ganze Lebenswelt transformierte.

Die evolutionäre Rolle der Viren blenden wir einfach aus

Auch die Viren sind Teil dieser Lebenswelt. Erhebliche Teile unseres Erbgutes bestehen aus verstümmelten Viren. Die Geschichte des Lebens und der Evolution ist also auch eine Geschichte der Viren. Obwohl wir also ein naturwissenschaftliches Wissen über die Langzeitrolle der Viren in unserer Welt haben, blenden wir sie aus unserem Weltverständnis aus. Sie werden von unserem konsumptiven Weltmodell an den Rand gedrückt, passen in dessen Logik nicht hinein. Wir entwickelten kein Sensorium dafür, dass da eine Welt existiert, die konstitutiv für die unsere ist. Deshalb wird die Ausbreitung des Coronavirus wie ein Überfall von Außerirdischen empfunden und auch so beschrieben. Da wir keine Umgangsweisen für die sogenannten Randbedingungen unserer individuell-konsumptiven Lebensform entwickelt haben, sind wir gezwungen, egal was es kostet, Geld einzusetzen. Dieses Whatever it takes ist die Kompensation für ein Lebensmodell ungebremsten, auf Individuen abgestimmten Wachstums. Die Folgen des Klimawandels, die bisher auch als Kollateralschäden des dominanten Weltmodells verbucht wurden, könnten die nächsten Krisen auslösen.

Da dieses kostspielige Krisenmanagement nicht unbegrenzt angewandt werden kann, besteht die Herausforderung der Corona-Pandemie darin, neue Lebensmodelle zu entwickeln. Es muss darum gehen, Praktiken und Denkformen, ja ein neues Alphabet des Lebens und Zusammenlebens zu entwickeln, das die Einzelnen nicht als abgeschottete Monaden versteht, sondern sie als in eine komplexe Welt von Beziehungen eingebettet begreift. Um diese Austauschbeziehungen mit der materiellen und sozialen Welt im Sinne eines dynamischen Gleichgewichts zu erhalten, kann es nicht nur um die Durchsetzung der eigenen Interessen gehen; gleichzeitig muss ein Sensorium für die anderen und die Welt entwickelt werden. Dieses muss in einem Geben und Nehmen bestehen, in einem Einwirken auf, aber auch Sorge um die Welt, um eine persönliche Entfaltung, die aber die Solidarität mit den anderen miteinbezieht.

Zur Entwicklung dieser Praktiken ist auch eine neue Raumpolitik nötig: Es braucht kleine, dezentrale lokale und regionale Einheiten, die für alle Akteure einen gemeinsamen Erfahrungsraum darstellen. Auf dieser Grundlage gilt es, Mikroökonomien und -politiken zu entwerfen. Diese Erfahrungsräume könnten dank digitaler Kommunikationsstrukturen weltweit miteinander vernetzt sein. Allerdings sollte diese Vernetzung nicht durch Plattformen erfolgen, sondern durch Strukturen, die Nutzer unmittelbar in Kontakt bringt, um den dezentralen Charakter der Kommunikation aufrechtzuerhalten. Diese ökonomischen und politischen Strukturen würden dann auf einer Logik der Relationen und nicht auf einer Logik der Skalierung aufbauen, bei der es nur um möglichst große Stückzahlen, um immer größeren Profit geht – mit planetarischen Konsequenzen. In der Relationenlogik treten gleichwertige Einheiten, die jeweils lokale Strategien verfolgen, miteinander in einen Austausch.

Angesichts des Coronavirus hat sich in unseren Gesellschaften ein kleines Fenster geöffnet, um Handlungsspielräume zu gewinnen. Dieses Fenster gilt es ein Stück weit offen zu halten. Satelliten haben in den letzten Tagen Bilder aus Industrieregionen gesandt, deren Luft in der Vergangenheit völlig verschmutzt war. Jetzt wird die Atmosphäre klarer. Die Erde scheint an einigen Stellen durchzuatmen. Wir sollten ihrem Beispiel folgen und die Zeit nutzen, um die Frage zu beantworten, welche Welt wir wollen.

 

Quelle: F.A.Z.

 

 

 

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